Mitschreiben mit 450 Silben pro Minute – Stenografie im Parlament

Mitschreiben mit 450 Silben pro Minute – Stenografie im Parlament
A reporter takes notes while President Barack Obama and Prime Minister Gordon Brown of the United Kingdom speak to the press in the Oval Office 3/3/09. Official White House Photo by Pete Souza

In einer Zeit, in der Spracherkennung und digitale Aufnahmen unseren Alltag prägen, klingt sie fast wie ein Relikt aus vergangener Zeit, Stenographie, die Kunst des schnellen Schreibens in Zeichen und Kürzeln. Doch sie ist keineswegs veraltet. Im Deutschen Bundestag spielt sie bis heute eine zentrale Rolle, und das aus gutem Grund.

Stenographie, auch Kurzschrift genannt, ist ein spezielles Schriftsystem, das entwickelt wurde, um gesprochene Sprache möglichst schnell mit der Hand mitschreiben zu können. Statt der langen, runden Buchstaben der normalen Schreibschrift verwendet die Stenografie abgekürzte Zeichen, Punkte, Bögen und Linien, die ganze Silben, Laute oder sogar ganze Wörter darstellen.

Die heute gebräuchlichste Form in Deutschland ist die Deutsche Einheitskurzschrift (DEK). Sie entstand 1924 durch die Vereinheitlichung verschiedener Kurzschriftsysteme und wird in drei Stufen unterteilt, Verkehrsschrift, Eilschrift und Redeschrift, letztere wird im Bundestag eingesetzt und ist besonders schnell, aber auch schwer zu entziffern.

Stenografie hat eine lange Geschichte. Schon im antiken Rom gab es eine Form der Kurzschrift. Im 19. Und frühen 20. Jahrhundert war Stenografie in Verwaltungen, Zeitungen, Gerichten und sogar in der Schule weit verbreitet. In Deutschland galt sie früher als besonders wichtige Fähigkeit, wer eine gute Ausbildung wollte, kam an Steno kaum vorbei.

Heute ist die Bedeutung von Stenografie im Alltag stark zurückgegangen, aber nicht im Bundestag, dort ist sie bis heute ein unverzichtbarer Bestandteil des parlamentarischen Betriebs.

Im Plenarsaal des Deutschen Bundestags, während Abgeordnete debattieren, sitzen kaum sichtbar in einer erhöhten Nische über dem Plenum die Stenograf*innen des Bundestages. Ihre Aufgabe, jedes gesprochene Wort exakt und in Echtzeit mitschreiben. Dabei geht es nicht nur um Geschwindigkeit, sondern auch um Genauigkeit. Zwischenrufe, Lacher, Beifall, alles wird protokolliert.

Damit das funktioniert, arbeiten die Stenografinnen im Team. In der Regel sitzen drei bis vier Personen gleichzeitig im Dienst. Jeder schreibt etwa fünf Minuten am Stück, bevor der nächste übernimmt. So entsteht eine lückenlose Mitschrift, die später zu einem Plenarprotokoll verarbeitet wird, einem offiziellen und öffentlich zugänglichen Dokument.

Die berechtigte Frage lautet, warum verwendet man in einer Zeit von Audioaufnahmen und automatischer Transkription noch ein so altes System?

Die Antwort ist verblüffend einfach, weil es besser funktioniert. Denn Stenografie hat klare Vorteile:

  1. Tempo, Stenograf*innen erreichen bis zu 450 Silben pro Minute, schneller als die meisten Menschen sprechen können.
  2. Zuverlässigkeit, während Maschinen bei Dialekten, Akzenten oder Nebengeräuschen versagen, behalten erfahrene Stenograf*innen den Überblick.
  3. Neutralität, Maschinen erkennen keinen Kontext, Menschen schon. Die Stenograf*innen im Bundestag sind darauf geschult, auch nonverbale Elemente wie Ironie oder Zwischenrufe einzuordnen.
  4. Datensicherheit, handschriftliche Notizen sind schwer zu manipulieren, was in der politischen Dokumentation enorm wichtig ist.

Die Tätigkeit im Bundestag ist keine gewöhnliche Berufsausbildung. Die Stenograf*innen werden durch ein spezielles Auswahlverfahren eingestellt. Voraussetzungen sind unter anderem:

  1. Ein sehr gutes Sprachgefühl
  2. Hervorragende Deutschkenntnisse
  3. Eine extrem schnelle Schreibfertigkeit in der Deutschen Einheitskurzschrift.

Wer angenommen wird, durchläuft eine intensive Ausbildung beim Bundestag, bei der nicht nur Geschwindigkeit, sondern auch Genauigkeit, Teamarbeit und politische Grundkenntnisse geschult werden. Viele Bundestagsstenograf*innen sind ehemalige Studierende der Germanistik, Sprachwissenschaft oder Jura, doch der Weg steht grundsätzlich allen offen.

Der Beruf der Stenograf*innen im Bundestag ist zwar spannend, aber auch fordernd. Sie sind bei jeder Plenarsitzung anwesend, oft über viele Stunden hinweg. Zwischen den Schreibphasen haben sie Pausen, in denen sie die Mitschrift überarbeiten oder die Protokolle aufbereiten.

Besonders schwierig wird es, wenn Abgeordnete sich gegenseitig ins Wort fallen oder sehr schnell sprechen. Trotzdem darf kein Wort verloren gehen, denn die Protokolle sind nicht nur Dokumente für die Öffentlichkeit, sondern auch juristisch relevant.

Trotz ihrer enormen Verantwortung bleiben Stenograf*innen meist im Hintergrund. Kaum jemand kennt ihre Namen, kaum jemand sieht sie arbeiten. Dabei ist ihre Tätigkeit ein zentraler Pfeiler der deutschen Demokratie. Ohne sie gäbe es keine vollständige Dokumentation der Parlamentsdebatten, und damit weniger Transparenz.

Früher war Stenographie ein beliebtes Schulfach, heute kennen die wenigsten Jugendlichen noch diese Technik. Dabei kann sie auch heute noch hilfreich sein, zum Beispiel beim schnellen Mitschreiben in Vorlesungen oder bei Interviews.

Vielleicht inspiriert dich ja dieser Artikel, ein paar Zeichen zu lernen? Wer weiß, vielleicht wirst du ja eines Tages Stenograf*in im Bundestag.

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