Prolog
Ich sah mich um, wusste nicht, wohin ich jetzt gehen sollte. Der Flur, den ich in den letzten paar Tagen oft entlang ging, fühlte sich jetzt völlig fremd an. Was hatte ich eigentlich vor? Linus zu retten… Wie denn? Schaffe ich das überhaupt? Was, wenn ich allen noch mehr schade?
Mir stockte der Atem. Mein Herz raste wie nie zuvor. Ich hörte Schritte, die immer näher kamen und immer lauter wurden. Schritte, die auf mich zukamen. Woher kamen sie? Spielte das eine Rolle?
Plötzlich wurde mir klar: Es gibt keinen Ausweg. Es ist vorbei.
Kapitel 1:
„Ich heiße Bethany. Ihr könnt mich gerne Beth nennen.“ sagte die Gastmutter mit einem freundlichen Lächeln. „Meine Tochter Lea isst heute in ihrem Zimmer. Sie wird nicht oft zu sehen sein – sie ist ein wenig nervös, wenn sie neue Menschen trifft. Mein Ehemann Edward ist auf Geschäftsreise und kommt heute nicht nach Hause.“
Nick sah mich ungläubig an. Er hatte vermutlich kein Wort verstanden – sein Englisch war nicht besonders gut. Linus musste grinsen. Ich ignorierte ihn und nickte Beth freundlich zu.
Vor ein paar Wochen hätte ich nicht gedacht, dass ich jetzt hier sitzen würde – mitten in einem fremden Haus, irgendwo in England. Der Schüleraustausch war eigentlich nicht meine Idee gewesen. Linus hatte mich überredet. „Eine Woche in England – Gemeinsam Urlaub! Keine Schule!“ hatte er gesagt. Mein Vater fand es cool, meine Mutter allerdings… na ja. „Frederik, meld dich jeden Tag, ja? Und pass auf dich auf!“ Hätte mich nicht gewundert, wenn sie heimlich einen GPS-Tracker in meinen Koffer gepackt hätte.
Wir stellten uns schnell vor, bevor wir zu essen begannen. Es gab Gulasch – genau das Richtige nach der langen Busfahrt. Ich merkte, wie die Müdigkeit langsam in meinen Körper kroch. Das Haus war gemütlich, aber trotzdem fühlte sich alles fremd an. Vielleicht lag es an der Stille, die immer wieder ins Gespräch sickerte.
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Unser Zimmer lag im ersten Obergeschoss, direkt neben Leas. Es war schlicht eingerichtet: drei Betten, Schränke mit Schubladen und ein kleines Bad, das direkt an unser Zimmer grenzte. Nichts Besonderes. Die Dielen knarrten leise, als ich zum Fenster ging und hinaussah. Draußen war es mittlerweile stockdunkel, nur die Straßenlaterne warf ihr flackerndes Licht auf die feuchte Einfahrt.
„Heute wird nur entspannt!“ hatte Beth gesagt. Aber wir drei – meine besten Freunde Nick, Linus und ich – hatten andere Pläne. Ein Clash of Clans-Turnier. Nick würde sicher wieder Letzter werden.
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Nick hatte verloren. Wie erwartet. Nur… er wirkte seltsam wütend. Nicht wie sonst, für fünf Minuten. Sondern seit einer ganzen Stunde.
„Sollen wir ihn nochmal ansprechen?“ fragte ich Linus unsicher.
„Keine Ahnung… Er ist ja direkt nach der Niederlage wortlos nach unten gegangen. Vielleicht hätten wir ihn nicht auslachen sollen. Aber es war doch nicht mal ernst gemeint.“ Linus klang genauso verwirrt wie ich.
Es war komisch. Normalerweise hätte Nick längst wieder normal mit uns geredet, vielleicht sogar selbst darüber gelacht. Aber diesmal nicht.
Schließlich entschieden wir uns, ihm nachzugehen und uns zu entschuldigen. Schließlich war es unser Fehler, dass er sauer war.
„Tut uns leid.“ murmelte Linus.
„Wir wussten nicht, dass du es so ernst nimmst. Sonst hätten wir dich nicht ausgelacht. Wirklich.“ Ich übernahm das Reden.
Stille. Keine Reaktion. Er stand am Fenster, den Rücken zu uns gewandt.
Wir tauschten unsichere Blicke aus und drehten uns schließlich um, um zu gehen.
„Immer.“ Nicks Stimme durchschnitt plötzlich das Schweigen. „Ich bin immer der, der ausgeschlossen wird. Was habe ich euch je angetan? Ich habe es nicht verdient, so behandelt zu werden. Nicht von euch. Ich dachte… wir wären Freunde?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein ersticktes Flüstern.
Meine Hände wurden kalt. Für einen Moment fühlte es sich an, als wäre alles um uns herum ein Stück weiter weggerückt. „Verdammt…“ Mehr brachte ich nicht heraus. Ich sah Linus an, suchte nach Worten, nach irgendetwas – aber alles fühlte sich falsch an. Also schwieg ich einfach.
Draußen zuckte ein Blitz über den Himmel. Für einen Moment warf das Licht Nicks Spiegelbild in der Fensterscheibe zurück – sein Gesicht wirkte fremd. Dann war es wieder dunkel.
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